Simon Bening (um 1483-1561): Maria Immaculata aus dem Grimani-Brevier (um 1500) und Kopie aus einem Rosarium (um 1510)
Typisch für die Reformationszeit war eine innige Marienverehrung, die wir heute nur noch in Texten oder Bildern erahnen können. Aus der Zeit um 1500 stammt das flämische Grimani-Brevier, das sich heute in der venezianischen Biblioteca Nazionale Marciana befindet. Fol. 831r zeigt die Maria Immaculata mit vielen ihrer Symbole nach der Lauretanischen Litanei. Diese noch mittelalterliche Malerei ist insofern interessant, da Thielman Kerver zur gleichen Zeit eine völlige Neukomposition auf den Markt brachte, die solche Malereien ablösen sollte.
Der Ausschnitt zeigt hier Maria, die auf einer Mondsichel über der Stadt Gottes schwebt. Es ist eine realistische Wiedergabe einer spätmittelalterlichen Stadt, man sieht vor allem mächtige Kirchen, wie man sie in Antwerpen, Gent oder Brügge finden konnte, dazwischen bürgerliche Häuser. Alles ist in ein bläuliches Licht getaucht. Nach vorne schützt die Stadt eine niedrige Mauer – diese ist hellbraun gehalten, auf ihr findet man in vergoldeten Buchstaben die lateinische Beschriftung „Civitas Dei“. Dies ist der einzige konkrete Hinweis, dass es sich um die Gottesstadt handelt, andere Bestandteile, wie das Lamm Gottes oder der Zionsberg, fehlen hier.
Rechts auf einem Berg befindet sich die Himmelspforte. Sie ist mehr als eine einfache Pforte, fast schon eine städtische Anlage mit zwei runden Seitentürmen und einem mittigen Hauptturm. Das Gatter darunter ist hochgezogen, die Pforte steht offen. Der Miniaturist dieses Blattes war der flämische Miniaturmaler Simon Bening (um 1483-1561), der in Brügge tätig war. Diese Arbeit fällt noch unter sein Frühwerk, zusammen mit Gerard Horenbout sollte er prächtige Handschriften gestalten und zum ersten seines Faches aufsteigen. Er war gefeiert und beneidet in ganz Europa, wo man überall seine Werke begehrte, falls man sie sich leisten konnte, wie Kardinal Albrecht von Brandenburg oder Karl I., König von Spanien.
Das Brevier Grimani in der Markus-Bibliothek in Venedig, Venedig 1906.
Horst Wolf: Die Meister des Breviarium Grimani, Berlin 1928.
Breviarium Grimani. Faksimileausgabe der Miniaturen und Kommentar, hrsg. von Andreas Grote, Berlin 1973.
Claus Bernet, Klaus-Peter Hertzsch: Martin Luther in seiner Zeit – und das Himmlische Jerusalem, Norderstedt 2016 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 40).
Eine ähnliche Miniatur entstand nach dem Grimani-Brevier, vermutlich nur wenige Jahre danach, da mit zunehmendem Abstand sich der Bildaufbau änderte, hier aber noch sehr genau an der Vorlage orientiert ist und in machen Partien als Kopie gelten muss. Es handelt sich um ein Rosarium. Ich vermute, dass sich das Grimani-Brevier sogar noch in der Werkstatt befand, als das Rosarium hergestellt wurde, da das Rosarium auch auf anderen Miniaturen so exakt nachgearbeitet wurde, dass man eine Vorlage haben musste.
Beteiligt war auch hier wieder Simon Bening (um 1483-1561). Mit Rosen hat der Titel nichts zu tun, es handelte sich vielmehr um eine freie Sammlung verschiedener prosaischer und lyrischer Texte zur Marienverehrung, was man heute Anthologie bezeichnen würde. Blumen spielen vielleicht nur insofern eine Nebenrolle, als dass man auch heute (veraltet) eine Gedichtsammlung als „bunten Strauß“ bezeichnen kann. Im Unterschied zu heute ging es damals ausschließlich um christliche Texte.
Dieses Rosarium befindet sich heute in der Chester Beatty Library in Dublin, dort unter der Signatur MS Western 99. Durch eine moderne Faksimile-Ausgabe ist es weit verbreitet und findet daher mehr Aufmerksamkeit als andere Miniaturen, die nicht in den Genuss einer solchen Reproduktion gelangten, aber ebenso wertvoll oder bedeutungsvoll sind.
Vergleicht man beide Miniaturen, fällt bereits die Ähnlichkeit der Rahmungen auf. Die Zahl der Symbole ist identisch, ihre Position im Bild minimal verschoben. Das rührt daher, dass die Marienfigur einschließlich Gott und den vier Engeln etwa auf das fünffache vergrößert wurde. In der Folge war weniger Platz für die Civitas Dei zu Füßen Mariens, auch der Hügel mit der Himmelspforte schrumpfte merklich. In der bauliche Gestalt sind sie sich jedoch treu geblieben, allein die Beschriftung variiert: Im Grimani-Brevier sind die Symbole direkt mit vergoldeten Lettern bezeichnet, in dem Rosarium sind sie mit weißen Schriftbändern versehen.
Rosarium. (The Beatty Rosarium). MS Western 99, Chester Beatty Library, Dublin, Graz 1986.
James Morrow, Judith Testa: Das Beatty-Rosarium. Eine Handschrift mit Miniaturen von Simon Bening. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Original-Format des Codex MS Western 99 aus dem Besitz der Chester Beatty Library Dublin, Graz 1986.