In der Stadtbibliothek Tours wird die Handschrift MS 950 aufbewahrt, die um 1400 hergestellt wurde. Es handelt sich um eine französische Ausgabe der Pélerinage mit einfachen Illustrationen in roten und braunen Farbtönen, die teilweise beschädigt sind. Allen Zeichnungen des unbekannten Miniaturisten ist die hellrote Farbe gemeinsam, die als preiswertes Färbemittel für viele Kolorierungen im Spätmittelalter bevorzugt benutzt wurde. Es sind originelle Zeichnungen, die mit keiner anderen bekannten Ausgabe des Pilgeromans in Beziehung stehen. In der Handschrift erscheint das Neue Jerusalem mehrfach: Auf fol. 1 erblickt man sie zunächst als zweitürmige Vedute auf gewaltigen Steinquadern. Diese wie auch die folgenden Zeichnungen haben keinen eigenen Rahmen, sie wurden direkt zwischen den lateinischen Text eingefügt. Dies ist immer genau dann der Fall, wenn die Illustration das Beschriebene wiedergibt. Man darf vermuten, dass der Miniaturist und der Skribent die gleiche Person waren. Es musste schnell gehen und preisgünstig sein; für eine Zeichnung dieser Qualität brauchte man nicht einmal eine Stunde und hatte den Auftrag innerhalb einer Woche abgearbeitet.
Auf einer folgenden Miniatur (fol. 1v) zeigt sich ein Engel mit dem Schlüssel und mit einer Lanze bewaffnet. Er steht seitlich vor einem einzelnen prächtigen Himmelstor, dessen Zackenrelief auch in der Romanik hätte entstehen können. Die Beschläge und ein Guckloch deuten an, dass die Pforte geschlossen ist.
Die anschließende Miniatur, fol. 2, zeigt den Pilger bereits in der Gottesstadt. Er steht mit seinem Pilgerstab auf den rechteckigen Mauern der Stadt, die mit Edelsteinen verziert sind. Er ist nicht allein, an seiner Seite finden sich noch zwei weitere Bewohner, die zeichnerisch und farblich kaum ausgearbeitet sind. Am rechten Rand wächst aus der Mauer ein turmartiges Gebilde nach oben, dessen einzelne Segmente (Steine oder Stufen?) sich gut erkennen lassen. Vermutlich ist es eine Leiter, mit der die Mönche sich Zugang verschaffen wollten.
Auf fol. 2v befinden sich ein König (links) und ein Geistlicher (rechts) in einem Jerusalem, welches aus unterschiedlichen Bauteilen wild zusammengewürfelt ist, wie man es eher von den Illustrationen des „Liber Scivias“ kennt. Als einzige Miniatur hat sie einen bräunlichen Hintergrund, in der die Pforte von fol. 1v wiederzufinden ist, daneben ein rotes Haus, unten links ein Gatter und rechts möglicherweise die umgefallenen Leitern der vorangegangenen Miniatur.
Catalogue général des manuscrits des bibliothèques publiques de France, 37, 1: Tours, Paris 1900, S. 688-689.
Claus Bernet: Die Spiegelvision des Guillaume de Digulleville, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 35).