Selbst Experten ist mitunter unbekannt, dass die Universitätsbibliothek Genf eine kostbare Ausgabe der Pélerinage des Guillaume de Digulleville besitzt (Signatur MS fr. 182). Sie ist auf das Jahr 1464 datiert. Möglicherweise wurde sie kaum beachtet, da sie relativ spät entstanden ist, als der Pilgerroman längst nicht mehr so populär gewesen war wie hundert Jahre zuvor.
Fol. 4v der Handschrift zeigt in großer Farbenpracht die Eröffnungsszene der Geschichte. Zwar wacht ein feuriger Engel vor dem Haupttor, doch durch Nebeneingänge und Schleichwege verschaffen sich bereits findige Mönche einen Weg in das Himmlische Jerusalem. Dieses präsentiert sich als eine Mischung zwischen Locus Amoenus und Adelspalast, bevölkert von lustwandelnden Heiligen und Engeln. Sie ist in der Darstellung beeinflusst von zeitgenössischen Ausgaben von „De Civitate Dei“. Eine Besonderheit sind rechts unten zwei Schwäne auf dem Lebensfluss, wie sie auch ältere Pélerinage-Ausgaben gelegentlich zeigen. Selten thematisiert, zählt doch der Schwan zu den außerbiblischen Kennzeichen der mittelalterlichen Gottesstadt, neben der Eule und anderen Vögeln.
Fol. 5r zeigt die Stadt ein weiteres Mal, aber völlig anders. Hier erscheint sie in einem ovalen Spiegel, der diesmal in ein Fenster eingebaut oder vorgehängt ist – ob es solches im Spätmittelalter tatsächlich gegeben hat? Dem Spiegel gegenüber hat man sich den Pilger auf seinem Bett vorzustellen (hier nicht zu sehen). Wieder wacht ein Engel im Haupttor. Der Bau ist symmetrisch angelegt. Er besteht aus einem Hauptturm, zwei Seitentürmen und einem Giebel dazwischen. Ansonsten sind Einzelheiten und Spielereien hier weggelassen, die schwarzweiße Zeichnung im Spiegel erscheint wie im Nebel, einem Traum durchaus angemessen.
Anne-Marie Legaré: Les rapports du maître d’Antoine Rolin avec l’imprimé. L’exemple du Pèlerinage de Vie Humaine en prose, in: Jean-Charles Herbin (Hrsg.): Richesses médiévales du Nord et du Hainaut, Valenciennes 2002, S. 65-123.
Paule Hochuli Dubuis: Catalogue des manuscrits français (1-198), Genève 2011.