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Kalendar-Psalterium (um 1130)

Die Miniatur mit der Darstellung des Himmlischen Jerusalem stammt aus der Handschrift Württembergische Landesbibliothek, Cod. brev. 100, fol. 1v. und ist dort gewissermaßen das Titelbild. Es handelt sich um ein Kalendar und Psalterium, das u.a. auch ein Capitula enthält (biblische Kurzlesungen, heute als Perikopen bezeichnet). Die Handschrift mit der rotschwarzen Titelzeichnung wurde um 1130 in der Benediktinerabtei Zwiefalten zwischen 1125 und 1135 geschaffen, also zu einer Zeit, in der die Kirche durch mehrere Gegenpäpste in starke Krisen geraten war. Allein schon von daher ist der martialische Eindruck, den diese Gottesstadt vermittelt, nur allzu verständlich, doch es gibt weitere Gründe. Die kriegerische Tracht der Wächter und Bewohner ist auch eine Verarbeitung der Erfahrungen der Kreuzzüge. Im Jahre 1099 wurde das historische Jerusalem von westeuropäischen Rittern erobert, die ihren Kriegszug als geheiligte Pilgerfahrt betrachteten: Selbst die Engel der Stadt tragen Kettenhemden und sind mit Schwertern, Lanzen und Schilden bewaffnet. Die Tore der Stadt sind fest verschlossen. Die weißen Punkte auf den Türmen sollen vermutlich Perlen darstellen. Den militärischen Charakter unterstreicht zusätzlich die Umschrift: „Super muros eius angelorum custodiam. Hec est Hierusalem ciuitas magna celestis ornata tamquam sponsa agni. Vidi supra montem Sion agnum stantem et cum eo centum quadraginta quatuor milia“ (Apokalypse, Kap. 14, Vers 1).
In der Stadt drängen sich verschiedene Menschen derart dicht aneinander, dass mitunter nur die Augen zu sehen sind. Die schematische Reihung der Köpfe deutet auf die Ständeteilung hin, könnte aber auch nur verschiedene Bevölkerungsschichten der Stadt andeuten. Jedenfalls ist die Stadt derart mit Schutzsuchenden vollgestopft, dass kein einziges Haus zu sehen ist. Dennoch ist in der Mitte ein geräumiges Tondo für das Lamm Gottes freigelassen. Geschickt nehmen die äußeren Linien des Tieres, insbesondere der Hals, die Krümmung des Kreises auf, so dass in der ansonsten starren Szenerie ein dynamisches, bewegtes Zentrum entsteht. Eine spannungsreiche Verbindung von Quadrat und Rundform kennzeichnet zudem diese einzigartige Jerusalemdarstellung. Sie hat weder Vorläufer, noch wurde sie in den späteren Jahren kopiert. 

Virgil Ernst Fiala, Wolfgang Irtenkauf: Codices breviarii (Cod. brev. 1-167), Wiesbaden 1977.
Cod. brev. 100, in: Katalog der illuminierten Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart: Provenienz Zwiefalten, bearb. von Sigrid von Borries-Schulten, Stuttgart 1987, S. 126-129 (Denkmäler der Buchkunst, 7).
Hana Sedinová: The precious stones of Heavenly Jerusalem in the medieval book illustration and their comparison with wall incrustation in St. Wenceslas chapel, in: Artibus et historiae, 21, 41, 2000, S. 31-47.
Frank O. Büttner: Der illuminierte Psalter im Westen, in: The illuminated Psalter, Turnhout 2004.
Felix Heinzer: Klosterreform und mittelalterliche Buchkultur im deutschen Südwesten, Leiden 2008.

 

tags: Psalterium, Ottonik, Mittelalter, Lamm, Ritter, Benediktiner, Kreis
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