In La Tour im französischen Departement Alpes-Maritimes befindet sich die „Chapelle des Pénitents blancs“ („Kapelle der weißen Büßer“) mit Fresken aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Damals war die Laienbewegung der „weißen Büßer“ eine beliebte Alternative zu den Mönchsorden, bei gleichem Ziel: Durch ein frommes Leben wollte man das ewige Leben erlangen. Zahlreiche Kapellen wurden durch diese Bewegung ermöglicht, darunter diese in einem abgelegenen Alpenort mit damals einer Handvoll Einwohner.
Die Rückwand der Kapelle, dem Altar gegenüber, schmückt eine opulente Darstellung des Jüngsten Gerichts: links dieser Ausschnitt mit dem Himmlischen Jerusalem, rechts die Hölle, darüber der richtende Christus auf einem Regenbogen. Datiert sind die Malereien auf das Jahr 1491. Der Meister ist nicht bekannt, ein Stilvergleich lässt aber den gleichen Künstler vermuten wie bei Saint-André in Monêtier-les-Bains (um 1475). Auch hier schließt eine übergroße Petrusfigur mit einem Schlüssel gerade das Himmelstor auf. Sie schützt mit ihrem Mantel die Eintretenden, was eigentlich eine Aufgabe Mariens ist. Die leicht spitzbogige nach oben geschwungene Rahmung der Pforte wurde in der späten Gotik bevorzugt gewählt. Auf der Treppe davor reihen sich die wenigen Geretteten, gestützt von einem Engel, dessen Flügel geschickt das rot-braune Gewand von Petrus verlängert. Physiognomie und menschliche Proportion sind von großer Eindringlichkeit. Links oben befinden sich schon Gerettete in den Mauern der Stadt und schauen aus Fenstern den Ankommenden zu; rechts entsteigen weitere Verstorbene ihren Gräbern. Die Kirche wurde samt der Innenausstattung mitten im Krieg 1944 zum Kulturdenkmal Frankreichs erklärt. Leider ist der Erhaltungszustand der wertvollen Malereien schlecht; links und unten haben Wasserschäden und Ausblühungen im Mauerwerk Teile des Freskos angegriffen.
Paul Roque: Les peintres primitifs niçois, Nice 2006.
Philippe de Beauchamp: L’art religieux dans les Alpes-Maritimes, Aix-en-Provence 1990.
Claus Bernet: Denkmalschutz, Denkmalpflege und UNESCO-Weltkulturerbe, Norderstedt 2020 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 47).