Diese polychrome Lindenholzskulptur gehört zu einem Altar, der einst im schwäbischen Biberach hergestellt worden ist. In Ermangelung der Kenntnis eines konkreten Künstlers nennt man ihn heute einfach den „Biberacher Meister“, von dem noch die Skulptur „Heilige Familie“ aus dem Dominikanermuseum in Rottweil bekannt ist.
Die kostbare Altarschnitzerei entstand um 1520, ist aber noch ganz in der gotischen Formensprache gestaltet. Zusammen mit dem Saalfelder Altar ist es einer der letzten dieser Altäre. Auftraggeber war vermutlich die Kirche St. Martinus und Maria in Biberach an der Riß in Baden-Württemberg. Wie oft konnte man im 19. Jahrhundert mit dem „dunklen Mittelalter“ nichts mehr anfangen und „säuberte“ den Kirchenbau radikal von unliebsam gewordenen Werken der Vorväter und Vormütter – eine Tradition, die es nur in Deutschland gibt (hier ein Beispiel aus jüngster Zeit).
Der Altar befindet sich seit dem Jahr 1896 im Kunstmuseum der Stadt Lyon, wo man den Wert dieser Arbeit sogleich erkannte, ihn dankbar aufkaufte und wo die Schnitzerei seitdem zur Dauerausstellung gehört.
Das Himmlische Jerusalem ist auf der linken Seite mit einer vergoldeten Himmelspforte angedeutet, von der oben der Rundbogen und links eine Mauerseite zu sehen ist, die den rahmenden linksseitigen Abschluss der Schnitzerei ausmacht. Die Pforte steht offen, in sie drängen verschiedene Gerettete von rechts. Sie werden von Petrus, wie beispielsweise der Papst (an der Tiara auszumachen), mit Handschlag empfangen – man kennt und versteht sich. Die Personen dahinter sind schön durchgearbeitet und die Personen zeigen viele Details in der Bekleidung, was für Volkskundler von Bedeutung ist und viel über den Alltag im 16. Jahrhundert erzählt. Bemerkenswert ist bei der Schnitzerei der tiefgrüne Lebensbaum, der die Pforte regelrecht überwuchert. Eigentlich ist es das gekräuselte, blaue Wolkenband, das hier in freier Abwandlung zum grünen Gestrüpp geworden ist. In seiner Krone erscheinen weitere Gerettete mit Engeln, wie in Nestern versammelt. Diese grünen Partien korrespondieren mit einem grünen Feld auf der gegenüber liegenden Seite, zwischen einem Karner und dem Purgartorium.
Martin Weinberger: Der Meister der Biberacher Sippe, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 4, 1927, S. 23-28.
Damien Berné (Hrsg.): Sculptures souabes de la fin du Moyen Âge. Ccatalogue de l’exposition, Paris 2015.