Spiegelvision des Guillaume de Digulleville: MS 208 (1475-1500)

In der Stadtbibliothek des nordfranzösischen Soissons findet sich in dem Manuskript 208, fol. 1, auf dem ersten Blatt, also dem Frontispiz, in ovaler Rahmung eine Darstellung der „Pélerinage de la vie humaine“ . Die Handschrift entstand im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, wahrscheinlich in der Abtei des Prämonstratenser-Ordens, Prémontré. Die an der Ausführung der Miniaturen beteiligten Mönche sind namentlich nicht bekannt. Die Handschrift war einst in Besitz des Adeligen Antoine de Beauvau.
Diese Miniatur der Eingangsseite erzählt den Traum Digullevilles in kräftigen Farben und zeugt von Humor: Vor einem mächtigen gotischen Portal steht ein roter Engel mit erhobenem Flammenschwert, hier ist offensichtlich kein Durchkommen. Einige Mönche, darunter sogar der Heilige Benedikt und der Heilige Franziskus, haben jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben und überwinden die Stadtmauern mittels Leitern, während es sich der Heilige Dominikus einfach macht und mit Hilfe eines Engels über die Mauern fliegt. Ein anderer Mönch, vor dem grünen Turm, wird mit Hilfe einer Kordel nach oben gehievt. Diese Szenen werden sonst auf mehrere Miniaturen verteilt und sind hier einmal auf engstem Raum vereint. Von dem Himmlischen Jerusalem sind vor allem frühneuzeitliche Türme mit spitzen Dächern zu sehen.
Der ovale Rahmen gehört übrigens zu einem Spiegel. In diesem Spiegel sieht der Erzähler des Romans dieses Erscheinung des Himmlischen Jerusalem und fühlt sich dadurch angeregt, nach dieser Stadt zu suchen. Die Suche macht dann die folgenden Seiten des Romans aus.

Claus Bernet: Die Spiegelvision des Guillaume de Digulleville, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 35).

 

tags: Spiegelvision, Guillaume de Digulleville, Frankreich, Frontispiz
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