Kladderadatsch-Karikatur (1875)

Der Kladderadatsch war eine populäre Berliner Unterhaltungszeitschrift, mit der vor allem Arbeiter und Arbeiterinnen sich ihre spärliche Freizeit vertrieben, sofern sie lesen konnten. In der Ausgabe vom 24. Januar 1875 (S. 16) wird ein eigenartiges Bild zum Himmlischen Jerusalem abgedruckt, das zum Themenkreis Jerusalemhumor gehört: In die Stadt zieht ein Wagen, der mit Traktaten beladen ist, aus der Stadt fließt ein Schwall an Abwässern auf die Welt nieder. In diesem Himmlischen Jerusalem geht es recht fröhlich zu: Engel spielen den Leierkasten, eine Nektarstube lädt zum Umtrunk, und links vermählt sich ein Heiliger mit einem Engel. An Kuriositäten ist kein Mangel: Militärbegeisterte Engel marschieren im Hintergrund durch die Straßen, am Molkenmarkt (ein Altberliner Platz) lädt der Teufel zu einer Vorstellung, muss aber mit dem Passionsspielhaus daneben konkurrieren. Die Städtische Gasbeleuchtung (in der Bildmitte) sorgt für ausreichend Helligkeit der nächtlichen Umtriebe.
Der Karikatur sind zwei Erläuterungen beigegeben, oben: „Pastor Steffan(n) hat seinen Schafen eine Beschreibung der ‚neuen Riesenstadt, genannt das himmlische Jerusalem’ gemacht“, und unten: „Da wir wohl wissen, welche Stadt unter der ‚neuen Riesenstadt’ der fromme Schäfer versteht, so liefern wir gern noch einige vergessene Einzelheiten als Ergänzung“. Diese Ergänzungen, die die Vorstellungen des Pastors Steffann ironisieren und verulken, versucht das Bild darzustellen. 
1868 war von Gottfried Nessel in Leipzig die Schrift „Leokadie: Bilder einer Gesellschaft“ herausgebracht worden, in der eine freireligiöse Gemeinde vorgestellt wird, die der obige Stich konterkariert. Hinter dem Pseudonym „Nessel“ verbarg sich Emil Steffann (1814-1889), der ab 1854 als lutherischer Prediger an der Bartholomäuskirche in Friedrichshain (Berlin) angestellt war. Seinem Roman warf man vordergründig zu viel Sympathie für die Katholiken vor – das eigentliche Ärgernis jedoch waren lebende Personen, die sich in dem Roman porträtiert sahen und nun gegen Steffann vorgingen. 1870 wurde er nach einer Medienhetze ins brandenburgische Raben strafversetzt. 1875 schließlich verließ er Preußen und verbrachte seine letzten Lebensjahre in Tübingen, wo er weiter schriftstellerisch arbeitete.

 

tags: Humor, Berlin, Zeitschrift, Illustration, UB Heidelberg
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