Morgan-Beatus (um 950) und Urgell-Beatus (um 975)

Der Morgan-Beatus ist die älteste erhaltene Beatus-Handschrift. Sie wird heute als Codex MS 644 in der New Yorker Morgan Library aufbewahrt. Das Himmlische Jerusalem ist in dem Werk zunächst auf fol. 222v zu sehen.
In einem umfangreichen Kolophon auf fol. 293 nennt der Schreiber seinen Namen in einem Wortspiel (Maius quippe pusillus – Maius, der Kleine), den Ort (cenobii summi Dei nuntii Micaelis arcangeli – das Kloster San Miguel de Escalada bei León), seinen Auftraggeber, den Abt Victor, und die Jahreszahl (duo gemina ter terna centiese ter dena bina = 2 × 2 + 3 × 300 + 3 × 10 × 2 = 964). Nachdem die damals in Spanien übliche Zeitrechnung von der heute verwendeten um 38 Jahre abwich, würde das eine Entstehungszeit von 926 bedeuten. In der heutigen Forschung wird ein so frühes Datum aus stilistischen Gründen nahezu ausgeschlossen. Allgemein wird eine Entstehung um die Mitte des 10. Jahrhunderts angenommen.
Bei der Abbildung zum Himmlischen Jerusalem ist der mozarabische Einfluss vornehmlich der arabische Rundbogen der zwölf Tore. Auch der weitestgehende Verzicht auf Personendarstellungen und die „Begrünung“ des Zentrums mit typisch arabischen Ornamenten gehen auf islamische Vorlagen zurück. Jede Räumlichkeit fehlt, die Darstellung ist zweidimensional, was man bei den Mauern des Himmlischen Jerusalem gut erkennen kann: es sieht aus, als wären die Mauern nach außen geklappt. Diese eigenartige Darstellungsform des Himmlischen Jerusalem findet man übrigens fast nur bei den Beatus-Handschriften. Hinzu kommt eine reiche Ornamentik in kräftigen und leuchtenden Farben, wie etwa bei dem aufgemalten Mosaik im Stadtinneren.

 

In einer Beatushandschrift findet sich das Himmlische Jerusalem meist zwei Mal, einmal von außen und ein weiteres Mal – wie hier – von innen. Gezeigt werden die Ältesten, versammelt um den Thron Gottes. Dort ist das Buch mit den Sieben Siegeln aufgeschlagen. Von Gottes Thron fließt der Lebensstrom, der meist einer Schlange ähnlich sieht, nach unten. Erst in der unteren Bildhälfte rechts sind Johannes und der Engel zu finden, welcher auf die gegenüberliegende Stadt zeigt. Der Hintergrund dieser Szene in drei breite Streifen geteilt, die sich vor allem in ihrer Farbe unterscheiden.

John Williams, Barbara A. Shailor: Beatus-Apokalypse der Pierpont Morgan Library. Ein Hauptwerk der spanischen Buchmalerei des 10. Jahrhunderts, Stuttgart 1991.
A Spanish apocalypse. The Morgan Beatus manuscript. Introduction and commentaries by John Williams, New York 1991.
Ingo F. Walther, Norbert Wolf: Codices Illustres: the world’s most famous illuminated manuscripts, 400 to 1600, Köln 2005.
David Raizman: Prayer, patronage, and piety at Las Huelgas. New observations on the later Morgan Beatus (M. 429), in: Therese Martin, Julie A. Harris (Hrsg.): Church, state, vellum, and stone. Essays on medieval Spain in honor of John Williams, Leiden 2005, S. 235-273.

 

Der Urgell-Beatus ist ein Codex des Archivs der katalanischen Stadt Seu d’Urgell (MS 26) aus der Zeit um 975. Er ist letztlich eine Kopie des Morgan-Beatus, was man deutlich an der Ausgestaltung des Himmlischen Jerusalem von fol. 186v und 187 sehen kann, wenngleich die Abweichungen und Freiheiten gegenüber dem Original zunehmen. Die Wandfläche der Tore ist nun einheitlich rhythmisch im Wechsel rot und violett gesetzt. Dagegen wurde bei dem Muster des Stadtinneren auf mehr als auf zwei Farbtöne zurückgegriffen. Dort befinden sich nur noch das Lamm und der Engel mit einem langen Maßstab, wohingegen Johannes, wie gewohnt, auf fol. 187 auf einem Hügel unten rechts zu sehen ist. Der ihm beim Morgan- und ebenso beim Valladolid-Beatus gegenübergestellte Lebensbaum wird hier nicht gezeigt, wodurch, auch durch andere Details befördert, die Binnenstruktur flächiger erscheint.

Albert Vives: El Beatus de la Seu d’Urgell. Descripció temàtica i artística de les miniatures, in: Urgellia, 1, 1983, S. 454-500. 
Antonio Cagigós Soro (Hrsg.): The Beatus of la Seu d’Urgell and all its miniatures. A book of the first millennium with messages for today, Seu d’Urgell 2001.
Antonio Cagigós Soro (Hrsg.): El Beato de la Seu d’Urgell y todas sus miniaturas. Museu Diocesà d’Urgell, La Seu d’Urgell, Seu d’Urgell 2001 (2).
Claus Bernet: Beatus-Apokalypsen, Norderstedt 2016 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 38).

 

Noch nach über Hunderten von Jahren beschäftigen sich Künstler mit den Beatus-Illustrationen. Diese moderne stilisierte Fassung wurde 1982 von dem Spanier Vicente Pascual Rodrigo (1951-2008) entworfen. Sie findet sich auf dem Cover des Buches „Simbolos“ von Titus Burckhardt (1908-1984), eines schweizerischen Sufiforschers und Vertreters der Philosophia perennis, also der Vorstellung, dass sich bestimmte philosophische Einsichten über Zeiten und Kulturen hinweg erhalten (perennieren). Im Vergleich beider Kunstwerke, zwischen denen etwa tausend Jahre liegen, fallen hier die deutlich runderen und weicheren Formen auf. Auffällig ist, das die gesamte Beschriftung weggelassen wurde, ebenso fehlen der Engel, Johannes und zwölf weitere Figuren in den Toren. Die Farbgebung wurde jedoch minutiös übertragen, sowohl bei der Architektur als auch den zwölf Edelsteinen. So ist in beiden Arbeiten die Farbe der ersten oberen Reihe der Edelsteine Grün, Gelb und Weiß, die der unteren Reihe Orange, Grün und Gelb.

 

tags: Beatus, Mozarabik, Spanien, Frühmittelalter, Katalanien, Kopie, Cover
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