Der Kupferstich des Kinderbuchs „Vom jüngsten Gericht“ (11 x 9 Zentimeter) fällt in die Zeit des Neupietismus. Dieser geht einher einerseits mit einer süßlichen Frömmelei und schier unglaublicher Naivität, andererseits mit nationaler Überhöhung und kulturellem Imperialismus. Davon ist auch das Kinderlehrbuch „Zweimal zweiundfünfzig biblische Geschichten für Schulen und Familien“ nicht frei, das im 19. Jahrhundert sicherlich zu den erfolgreichsten kirchlichen Kinder- und Jugendbücher zählte. 1882 erschien die 270. Auflage, 1895 die 359. Auflage – das muss man erst einmal erreichen.
Der Kupferstich mit dem Himmlischen Jerusalem findet sich in Kapitel 27, Seite 149, mit der Überschrift „Von den zehn Jungfrauen, den anvertrauten Centnern und von dem jüngsten Gericht“ (Matthäusevagelium Kap. 25).
Der Künstler Julius Steglich (1839-1913), der diesen Stich angefertigt hat, war ein sächsischer Historienmaler, der sich auf biblische Bilder spezialisiert hatte. Dazu hat er, was unverkennbar ist, bei Schnorr von Carolsfeld (1794-1872) sowie Allgaier und Siegle gelernt. Steglich stellte den auferstandenen Christus in das Zentrum seiner Darstellung, umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten und zahlreichen Engeln. Zwei von ihnen verkünden im Vordergrund mit Posaunen das Jüngste Gericht.
Über Christus erscheint das Himmlische Jerusalem auf einem Untergrund, von dem man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob Wolken oder eine Hügellandschaft gemeint sind. Ihre Position, Ausformulierung und der Strahlenkranz verraten, dass der Künstler einige Fassungen von „Der breite und schmale Weg“ gekannt haben wird. Die Himmelsstadt weist eine enge, durchgängige Bebauung auf, wie sie nahöstliche Städte kennzeichnete. Kein einziger Bau überragt die geraden Stadtmauern, die durch drei Tore auf jeder Seite gegliedert sind. Nur einige Palmen sind höher als die Mauerkrone. Steglich bemühte sich offensichtlich, der Stadt ein orientalisches Flair zu verleihen. Worum er sich nicht bemühte, ist eine kindgerechte verständliche Behandlung des Themas, die in dieser Form ebensogut in der Frömmigkeitsliteratur oder in Bibelausgaben zu finden ist.