Eine der bekanntesten Apokalypse-Handschriften des Mittelalters ist diejenige von Saint-Sever, die um das Jahr 1060 entstanden ist. Sie wurde vom Meister Stephanus Garsia/Garcia Placidus und seinen Gehilfen für die Abtei Saint-Sever in der Gascogne im Auftrag des Abtes Grégoire de Montaner (1028-1072) hergestellt. Heute wird sie in der Französischen Nationalbibliothek von Paris (MS Latin 8878) aufbewahrt.
Formal zählt das Meisterwerk zu der Gruppe der Beatus-Codici und ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Es ist der einzige Beatus vor 1100, der jenseits der Pyrenäen entstand und nicht in westgotischen, sondern in karolingischen Minuskeln und romanischen Kapitellen geschrieben ist. Inhaltlich und stilistisch gibt es beträchtliche Abweichungen zu den spanischen Vorbildern. So etwa ist die Darstellung von Menschen und Tieren wesentlich naturgetreuer. Auch enthält dieser Codex etliche Miniaturen, die bislang nicht zum eigentlichen Bildprogramm des Beatus gehörten.
Insbesondere die Darstellung des Himmlischen Jerusalem unterscheidet Saint-Sever von anderen Beatus-Darstellungen. Sie erstreckt sich über zwei Seiten (fol. 207v-208r) und erscheint nochmals auf fol. 208v, wo die Heiligen in Arkaden um Christus angeordnet sind, darunter Johannes und der Engel, der ihm mit einem Stab auf die neue Welt aufmerksam macht.
Auch die Doppelseite (fol. 207v-208r) zeigt Johannes sowie den Engel in der inneren quadratischen Stadt, direkt am zentralen Christuslamm in einem rotfarbenen Tondo. Klar voneinander abgegrenzte geometrische Felder sind das künstlerische Hauptthema dieser Jerusalemsdarstellung, was besonders bei den Toren der Stadt und den herzförmigen vier Zwicken an den jeweiligen Seiten auffällt. In den bogenförmigen Toren stehen zwischen Säulen die zwölf Apostel und tragen Manuskripte in ihren Händen. Eine Besonderheit ist die große, meist weiße Perle, die jedem Apostel beigegeben ist. Nach einer älteren Interpretation wurden die Perlen auch als Steine, die das Fundament der Stadt, bzw. der Kirche ausmachen, gedeutet.
Jedes der Felder ist mit einer hellen Farbe koloriert. Erst bei genauem Hinsehen erkennt man eine leichte Strukturierung jedes Feldes in einer weiteren Farbe. Die Binnenstrukturierung ist meist ein quadratisches, rotfarbenes Raster, das auch auf dem gelben Hintergrund von Johannes und dem Engel zu finden ist. Die zwölf Wächterengel hingegen findet man jeweils im Halbprofil zwischen den 24 Türmen über den Apostelfiguren.
Émile-Aurèle van Moé: L’Apocalypse de Saint-Sever. Manuscrit latin 8878 de la Bibliothèque Nationale (XIe siècle), Paris 1943.
Jean Porcher: Beatus in Apocalipsim. The Apocalypse of Saint-Sever, in: Graphis, 12, 1956, S. 218-225.
Noureddine Mezoughi: Notes sur le Beatus de Saint-Sever BN lat. 8878, in: Cahiers Saint-Michel-de-Cuxa, 10, 1979, S. 131-137.
Beato de Liébana: Comentarios al Apocalipsis y al libro de Daniel. Commentaires sur l’Apocalypse et le livre de Daniel, Bdd. 2, Madrid 1984.
Hana Sedinova: The precious stones of Heavenly Jerusalem in the medieval book illustration and their comparison with the wall incrustation in St. Wenceslas chapel, in: Artibus et Historiae, 21, 41, 2000, S. 31-47.
Claus Bernet: Beatus-Apokalypsen, Norderstedt 2016 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 38).
Diese Beatus-Miniatur wurde sogar von spekulativen Wissenschaftlern rezipiert, die selbst gestalterische Interpretationen vorlegten. Als Beleg für diese Aussage dient eine farbige Grafik aus Russland. Im Rahmen ihrer Untersuchung zu der Großstadt Moskau und dem Himmlischen Jerusalem ergänzten die russischen Mathematiker Носовский Глеб Владимирович (geb. 1959) und Фоменко Анатолий Тимофеевич (geb. 1945) die Apokalypse von Saint-Sever um zwölf identische Tore, die durch eine Mauer verbunden sind. Jedes der Tore hat drei Türme, die jeweils mit einem Knauf bekrönt sind. Die Ummauerung ist nun nicht etwa quadratisch, sondern an den Ecken eingezogen, so dass ein Oktogon entstanden ist. Das sich darin befindende Jerusalem aus dem Beatus von Saint-Sever wurde unverändert übernommen, sein ungewöhnlicher Umriss wurde in der Ummauerung wiederholt. Diese Collage illustrierte dann das Cover des Buches „Das dritte Rom“ des russischen Architekten und Stadtplaners Михаил Петрович Кудрявцев (1938 -1993), welches posthum 1995 in Moskau erschienen ist.