Weltgerichte erfreuen sich seit dem 15. Jahrhundert in der Ikonenkunst einer ungebrochenen Beliebtheit, und das gilt genauso für das 19. Jahrhundert. Damals entstand in Westrussland eine Ikone, die man heute im Staatlichen Museum für Geschichte der Religion in St. Petersburg befindet. Es handelt sich um eine Temperamalerei mit dem ins Deutsche übersetzten Titel „Hoch preist meine Seele den Herrn“. Weiteres als den Titel, wie Auftraggeber, Künstler oder Entstehungshintergrund, sind wie meistens nicht bekannt, eine weiterbringende wissenschaftliche Forschung zu Ikonen gibt es kaum mehr.
Hier ist die Schauseite Jerusalems durch fünf Tore in unterschiedlicher, aber ähnlicher und harmonischer Farbgebung dargestellt: Sie sind im Wechsel entweder dunkelblau oder ocker. Die Stadt mit ausgerechnet fünf Toren zu präsentieren, ist in der Ostkirche nicht so selten, man vergleiche die Schrift „Passion Christi und das Leben des Heiligen Basilius“ oder „Die Kluge Apokalypse“. Dazwischen und vor allem darüber sieht man hier etwas von den Bauten Jerusalems in einheitlicher roter Farbe. Die Tore sind offen, in ihnen empfangen Engel menschliche Seelen, die von weiteren Engeln nach oben gebracht werden (Typus Fahrstuhlikone). Meist geschieht dies auf einem vertikalen Band am linken Rand der Ikone, hier fliegen die Engel von verschiedenen Seiten an die Tore, wie ein Schwarm Bienen. Das Himmlische Jerusalem ist nach unten durch ein schmales, dunkelblaues Wolkenband abgetrennt. Hier findet man über der Stadt ein weiteres Band von Wolken, diesmal in weißer Farbe. Darüber stehen Engelsfiguren, die ansonsten vor der Stadt oder gelegentlich auch in ihr, meist in Arkaden, zu finden sind. Sie bilden stehend eine lange Reihe und sind zu Christus rechts hin orientiert, aber auch durch das Wolkenband, das auf einmal seine horizontale Richtung nach oben hin ändert, getrennt.
Claus Bernet: Ikonen des Weltgerichts, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 37).