
Der Wandteppich „Amerika“ gehört zu der vierteiligen Serie „Kontinente der Welt“. Die 305 x 211 Zentimeter große Arbeit besteht aus Wolle und Seide. Hergestellt wurde sie in der kaiserlichen Gobelin-Manufaktur von Sankt Petersburg, über den Zeitraum von drei Jahren hinweg von 1745 bis 1747. Vorbild dieses Kunstwerks soll eine ähnliche Arbeit von Godfried Maes aus Antwerpen gewesen sein, die allerdings nicht mehr vorhanden zu sein scheint. Erhalten haben sich in der MET New York allein mehrere Entwurfszeichnungen zu entsprechenden Wandteppichen, wobei diejenige zu Amerika zwar die Figur mit dem Federschmuck zeigt, nicht jedoch den Berg im Hintergrund mit der Architektur auf seiner Spitze. Eine Kopie westlicher Kunstwerke war damals nichts Ungewöhnliches: In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in der St. Petersburger Manufaktur aufgrund des wachsenden Arbeitsvolumens und des Kartonmangels für ihre Herstellung häufig Wandteppiche nach westlichen Mustern aus den kaiserlichen Palästen gewebt. Beteiligt war daran ein ganzes Team von Webern, wie Grigori Jeschikow, Sergei Klimow, Awraam Artemjew, Sachar Maksimow, Klim Krylow und der Lehrling A. Starkow. Vier Handwerker brauchten dabei einen Monat, um einen quadratischen Arschin (71 Quadratzentimeter) Wandteppich zu weben.
Die russische Fassung zeigt die allegorische Figur Amerika gegenüber eines Putto, der an einer Tabakspfeife zieht.
Exotische Tiere und Früchte sollen eine Amerika-Stimmung aufkommen lassen. Im Hintergrund erhebt sich ein hoher Fels oder Berg. Auf Höhe des Kopfes der Amerikafigur ist ganz leicht, kaum sichtbar, ein schmaler Pilgerweg angedeutet, mit den Umrissen zweier Personen. Nach oben spielt dieser Weg zunächst keine Rolle mehr, doch ganz oben wird deutlich, worauf sich das Pilgermotiv bezieht: Man findet einen mehrteiligen Bau, der wegen seiner Gestalt und seines Kreuzes als Kirchenbau gelten darf. Im allegorischen Sinne, der diesem Bild unterlegt ist, steht der Bau für die Institution Kirche im Diesseits oder für das Himmlische Jerusalem im Jenseits. Gleichzeitig ist es auch ein Verweis auf die Christianisierung dieses Kontinents.
Die intensive Farbpalette russischer Wandteppiche, vorwiegend in Blau-, Grün-, Rot- und Goldbrauntönen, harmonierte perfekt mit den vergoldeten Schnitzereien der Dekoration und Möbel der barocken Palastinterieurs. Im 18. Jahrhundert wanderten die Teppiche immer wieder von einem königlichen Palast zum anderen.
Im 19. Jahrhundert gerieten Wandteppiche außer Mode. Am 1. Juni 1857 wurde das Dekret Alexanders II. zur Abschaffung der kaiserlichen Wandteppichmanufaktur verkündet. Im Jahr 1831 waren die Wandteppiche aus der Serie „Kontinente der Welt“ dem Moskauer Palastbüro zur Dekoration der Moskauer Paläste übergeben worden; 1891 wurden sie in das Hof- und Stallmuseum von St. Petersburg aufgenommen. Seit 1895 schmücken sie das Interieur des Kleinen Speisesaals des Winterpalastes (in genau dem Raum, wo die provisorische Regierung beim Sturm auf den Winterpalast im Oktober 1917 verhaftet wurde) und sind Teil des Eremitage-Museums.
Eine zweite Fassung des Teppichs entstand kurz danach, um 1750, aus dem gleichen Material in gleicher Größe. Hier fällt sogleich ins Auge, dass die Amerika-Figur und der Putto die Seiten vertauscht haben. Weitere Veränderungen finden sich im Hintergrund: Der Berg hat nun eindeutig einen Pilgerweg, etwa ein Dutzend Figuren lassen sich auf ihm entdecken.
Darunter sind auch Engel und ein Paar, welches den falschen Weg nach unten eingeschlagen hat. Der Bau oben ist in seiner Gestalt unverändert, aber er kann erst jetzt, da er nicht mehr teilverdeckt ist, vollständig erkannt werden: Es ist ein Kirchenbau mit drei Kreuzen. Um einen höheren Zentralbau reihen sich vier kleinere Seitenkapellen, jeweils eine in jede Himmelsrichtung.
Der Teppich war in verschiedenen Palästen und Adelshäusern auf dem Gebiet des einstigen Kongresspolen in Gebrauch. Als Leihgabe der Adeligen Maria Małgorzata Potocka, geborene Radziwiłł, kam der Teppich 1920 in das Polnische Nationalmuseum nach Warschau (Inventarnummer 31296).