1949 wurde in Schönenberg das erste Glasfenster mit einer Darstellung des Himmlischen Jerusalem nach einem Entwurf von Wolf-Dieter Kohler (1928-1985) eingebaut, 1984 hat er dieses Motiv das letzte Mal in der Kapelle im Sindelfinger Krankenhaus aufgenommen. Dazwischen liegen über dreißig Jahre, in denen Kohler fast 60 Glasfenster mit allein diesem Thema entworfen hat, überwiegend für Kirchen in Baden-Württemberg, aber auch einmal in Rheinland-Pfalz und einmal in Schleswig-Holstein. Man könnte nun vermuten, dass sein letztes Fenster eine Steigerung oder gar Vollendung dieses Motivs bringen würde, welches den Künstler schließlich über Jahrzehnte am meisten faszinierte. Sicherlich wäre das im unteren Bereich eine Christusdarstellung geworden, mit den zwölf Toren als einfache Blöcke über seinem Haupt – so hat Kohler die heilige Stadt oft dargestellt.
Ganz anders in Sindelfingen. Das dortige Fenster befindet sich in der Kapelle im Erdgeschoss des Hauptbaus des städtischen Krankenhauses.
Kohler präsentiert das Himmlische Jerusalem wie nie zuvor, nur einige Bildelemente lassen sich zuvor in Fenstern um 1980 finden. Im Ganzen ist Kohler eine überraschende Neuschöpfung gelungen, die Frage aufwirft und neue Bezüge setzt. Sicher kam der Neuschöpfung Zugute, dass hier kein Kirchenfenster im Kontext von Abendmahl und Gottesdienst zu thematisieren war, sondern ein Krankenhausfenster im Kontext von Trost, Heilung und stillem Gebet. Daher ist das Thema hier die katholische Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen, die als Heilerin geradezu eine perfekte Heilige für diesen Ort war – auch hatte sie in ihren Visionen das Himmlische Jerusalem aufgegriffen.
Bereits die Form des Fensters ist, für das Schaffen des Künstlers, ungewöhnlich: Kohler stand eine komplette Wandfront aus zwei Teilen zur Verfügung, auf denen sich die Glaswand vom Fußboden bis an die Decke des Raumes zieht. Hier hat der Meister den Ewigen Tierfrieden mit der Vorstellung von Paradies und Himmlischen Jerusalem verbunden. Von links nach rechts zieht sich eine Auenlandschaft mit Blumen, Wiesen und einem Bach (dem Lebensstrom), an dem Tiere in Richtung Jerusalem wandern. Vieles kann entdeckt werden, etwa eine lustige Schildkröte.
Die Stadt ist dann nicht von Tieren, sondern von Menschen umringt. Sie stehen dichtgedrängt, so dass man nur die Gesichter und Hände sehen kann. Es sind nicht mehr die vierundzwanzig Ältesten, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen, mit der sich die Kranken vor diesem Fenster verbunden fühlen durften. Die Stadt ist ein Quadrat mit drei Toren pro Seite. Es sind breite Bögen mit einer kräftigen, roten Füllung. Zwischen die Tore sind zwölf Perlen gesetzt. Die Edelsteine, die für Hildegard von Bingen ja geradezu eine zentrale Rolle spielen, sind in diesem Fenster allerdings nicht aufgenommen worden. Das innere des Quadrats ist mit Blättern und blühenden Rosen überzogen. Das dominierende Motiv sind hier zwei Menschen, die sich auf einer Bank gegenüber sitzen. Es gibt hierzu verschiedene Deutungen, vielleicht fließt von allem etwas ein: Adam und Eva, Jesus und Maria, der Bräutigam und die Braut, der Mensch als Geschöpf Gottes an sich. Das Motiv der Rose hat Kohler kurz zuvor in Neckarweihingen in ein Fenster aufgenommen, das Motiv der beiden Personen in der Oberhofenkirche.
Neue Bildmotive, ein neuer, weicher und malerischer Stil, woher kommt dies? Wenige Monate nach Vollendung dieses Fensters ist Kohler verstorben, er war zum Zeitpunkt des Einbaus dieser Glaswand schon länger schwer erkrankt und nicht mehr in der Lage, vor Ort zu arbeiten, allein die Größe der Arbeit erforderte fremde Hilfe (neben den Kirchen ist dieses Fenster mit fast 40 Quadratmetern eine der größten Werke des Künstlers). Ich vermute, dass er in der letzten Jahre einen Gesellen oder Mitarbeiter hatte, der ihm bei der Ausführung behilflich war. Diese unterstützende Kraft hat sich mit eigenen Ideen eingebracht und veränderte merklich auch den Stil der letzten Kohler-Fenster ab Ende der 1970er Jahre. Das Fenster in Sindelfingen ist nur Dank einer großzügigen Spende möglich geworden. In der Fensterwand ist ganz links „In Erinnerung an unsere Mutter Hildegard“ eingeschrieben, daneben die Initialen der beiden Spender „U. + G. S.“. Eingebaut wurde es von der damals in Stuttgart ansässigen Glasmanufaktur Gaiser & Fieber.
25 Jahre Krankenhaus ‚Auf der Steige‘, 1962-1987, in: Gesundheitswesen im Wandel der Zeit, Sindelfingen 1987, S. 57-61.
Städtisches Krankenhaus Sindelfingen, Sindelfingen 1988.
Christa Birkenmaier (Hrsg.): Wolf-Dieter Kohler, 1928-1985. Leben und Werk, Petersberg 2021.