Wolf-Dieter Kohler (1928-1985): Markuskirche in Stuttgart-Plieningen (1961)
Die Stuttgarter Markuskirche war schon bei der Erbauung der Moderne verpflichtet, es war die erste Kirche Deutschlands, die von Heinrich Dolmetsch in Eisenbeton errichtet wurde. Ungewöhnlich für Stuttgart hat sie kaum Kriegszerstörungen erlitten, schon im Juni 1945 fanden hier wieder regelmäßig Gottesdienste statt, zu denen Mitglieder der vielen zerstörten Kirchen aus Stuttgart und Umgebung strömten. Im Inneren haben sich verschiedene Fenster aus der Erbauungszeit und späteren Änderungen erhalten. Die prominenteste Veränderung war die Neuverglasung über der Empore (Emporenrückwand), für die man drei Jugendstil-Fenster opferte – heute undenkbar. Ursprünglich besaß man hier eine einfache, matte bräunliche Verglasung, passend zur reichlichen Innenausstattung. Jetzt wollte man es umgekehrt haben: die Kirche wurde ausgeräumt, Malereien wurden überstrichen, prachtvoll verzierte Leuchter ausgeräumt – dafür entstanden jetzt motivische Fenster, die die Aufmerksamkeit von innen nach außen richteten.
Erneut bewies man Mut und bekannte sich zur Moderne; es entstanden expressionistische Buntglasfenster mit hohem Abstraktionsgrad. Wolf-Dieter Kohler (1928-1985), der in ländlichen Gemeinden immer wieder zu figürlichen Jesus-Geschichten veranlasst wurde, verzichtet hier ganz auf viele seiner früheren Bildelemente. So fehlen der Gekreuzigte ebenso wie Christus Pantokrator, auch kein Lamm ist zu sehen, kein Lebensfluss, kein Lebensbaum, kein Auge Gottes. Das Fenster lebt von der Szene des Mittelfensters, welches die beiden Seitenfenster um ein Viertel überragt.
Eine mächtige Figur erscheint, die von den Toren Jerusalems wie von einer Aura umzogen ist. Am ganzen Körper ist sie von Lichtblitzen durchstochen – auch die Assoziation von Schwertern liegt nahe. Sie hält mit ihren Händen, wie Moses die Gesetzestafeln, ein aufgeschlagenes Buch in die Höhe – Schriftzeichen sind angedeutet, aber kein lesbarer Text (anders als kurz zuvor in Affalterbach). Es sieht aus, als wollte er damit die winzige menschliche Figur an der linken Seite zerschmettern. Dieser Mensch steht im Schatten, seine Gesten und seine Gesichtszüge sind verzagt. Da er auf der rechten Seite steht, die traditionell der Verdammnis vorgehalten ist, hat Kohler vielleicht einen Verdammten dargestellt? Die Seitenfenster stärken die Zentrierung auf das Geschehen des Mittelfensters; jeweils sechs Engel eröffnen mit Posaunen das Letzte Gericht.
Zu dem Einbau der drei Fenster geistern unterschiedliche Daten durch die Literatur, zur Diskussion stehen 1958, 1960 oder auch 1978. Winzig klein und vom Schiff aus nicht sichtbar befindet sich am Fuß der menschlichen Figur die Angabe, dass diese Fenster von der Manufaktur Emil Gaisser in Stuttgart im Jahr 1961 hergestellt worden sind, nach Entwürfen von Wolf-Dieter Kohler.
Norbert Bongartz: ‚Neuer Stil‘ und Jugendstil. Zur Restaurierung der evangelischen Markuskirche in Stuttgart, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 7, 1, 1978, S. 1-7.
Manfred Müller: 75 Jahre Evangelische Markuskirche Stuttgart, Stuttgart 1983.
Andrea Woerner: Die Markuskirche in Stuttgart, Stuttgart 1992.
Ellen Pietrus: Die Markuskirche in Stuttgart, München 2007.
Christa Birkenmaier (Hrsg.): Wolf-Dieter Kohler, 1928-1985. Leben und Werk, Petersberg 2021.