Wolf-Dieter Kohler (1928-1985): Chorfenster der Stuttgarter Leonhardskirche (1957)
Wolf-Dieter Kohler (1928-1985) hat schon zu Beginn der 1950er Jahren die Tore und Häuser des Himmlischen Jerusalem mit Schraffuren plastisch ausgestaltet: eine kleinteilige Arbeit, die viele Tage Zeit kostete. Sinn und Zweck ist nicht allein, die Bauten realistischer aussehen zu lassen, sondern vor allem eine feine Oberflächenstruktur, die wertvoll erscheint und es auch ist – dem dargestellten Gegenstand also durchaus angemessen. Bei der Stuttgarter Leonhardskirche wurde dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Bei dem Fenster mit dem Himmlischen Jerusalem handelt es sich um eine ungewöhnlich lange Fensterbahn.
Kohler hatte bislang solche Bahnen noch nicht mit dem Himmlischen Jerusalem ausstatten müssen, und stand, wie alle Künstler, vor der Herausforderung, die quadratische Stadtanlage gut sichtbar auf dem schmalen Band unterzubringen. Kohler löste das Problem ungewöhnlich, indem er die Tore in zwei Sechsergruppen teilte. Ganz oben ist die erste Gruppe, etwa in die Mitte die zweite Gruppe gesetzt. Dazwischen ist der gekreuzigte Christus eingefügt, der von Gottes Händen (blau) getragen wird. Es sieht aus der Ferne allerdings aus, als würde hier eine Person aus einem Ei schlüpfen, ein Eindruck, der durch die weiße Farbe des Ovals noch verstärkt wird. Nicht nur Personen, denen die biblischen Motive kaum vertraut sind, stehen hier vor einem Rätsel. Zusammen mit der Taube sollte deutlich werden, dass hier auf die Dreieinigkeit angespielt ist.
Die Oberflächen der Turmblöcke sind mit einer Dreieck-Strukur versehen, wobei sich ein schraffiertes Dreieck mit einem glatten abwechselt – selbst die oberen sechs Tore sind so gestaltet, obwohl man diese Feinheiten allein mit der Kamera sichtbar machen kann.
Die Blöcke haben alle eine gebogene Öffnung und wurden von Kohler mit einer weißen Spitze versehen. Diese nimmt einerseits nochmals das Dreieck-Motiv auf, verweist andererseits auf den Kristall, einen der Baustoffe der Stadt. Im Vergleich zu Kohlers älteren Ausführungen hat er hier blaue, graue, braune und rote Engelsfiguren eingesetzt, die das Ganze zusätzlich zu den größeren Figuren beleben und für Abwechslung sorgen – auf den Kohler-Fenstern werden fast immer Geschichten erzählt, Szenen wiedergegeben, die bis in das kleinste Detail durchgearbeitet sind. Dennoch: zu seiner Zeit musste Kohler erst in einer persönlichen Aussprache den Gemeinderat davon überzeugen, dass diese Arbeiten nicht „zu modern“, sondern dem Anspruch nach Verständlichkeit durchaus genügten und Aussagen träfen über den christlichen Glauben.
Kohler arbeitete für dieses Fenster noch einmal mit Emil Gaisser und seiner Stuttgarter Glasmanufaktur zusammen. Eingesetzt wurde dieses mittlere Chorfenster mit zwei weiteren Fensterbahnen im Advent 1957. Die mittelalterliche Kirche war am 25. Juli 1944 schwer zerstört worden, ein schneller Wiederaufbau durch Rudolf Lempp und Gerhard Schneeweiß war zunächst weder Zeit noch Geld für hochwertige Buntglasfenster.
Harald Möhring: Evangelische St. Leonhardskirche Stuttgart, München 1984.
Wolfgang Knellessen: Evangelische Leonhardskirche Stuttgart, Zerstörung und Wiederaufbau. Materialheft zur Ausstellung, Stuttgart 2000.
Leonhardskirche. Informationen zur Geschichte, Architektur und Ausstattung der Leonhardskirche in Stuttgart, Suttgart (um 2023).
Christa Birkenmaier (Hrsg.): Wolf-Dieter Kohler, 1928-1985. Leben und Werk, Petersberg 2021.