Rudolf Yelin (1902-1991): Pauluskirche in Sickenhausen (1978)

Mit über achtzig Jahren hat Rudolf Yelin (1902-1991) das Himmlische Jerusalem noch einmal neu erfunden. Zuvor hatte er dieses Bildmotiv schon oftmals in verschiedenen Kontexten dargestellt, aber noch nie als Lichtband. So stand er vor der Herausforderung, seine vertikalen Lösungen in die Horizontale zu übersetzen. Die Pauluskirche in Sickenhausen (Reutlingen) war ein Neubau der siebziger Jahre, der multifunktionale Mehrzweckraum war die Lösung aller Probleme, Kirchen sollten nicht wie Kirchen aussehen, sondern eher wie Kindergärten, mit viel Holz und möglichst hellen Fenstern.

Bei den gewünschten Motiven war man aber dann doch nicht so modern, man wählte nicht Friedensszenen oder Porträts der Befreiungstheologen jeder Jahre, auch keine Sozialutopien, sondern setzte auf Bewährtes: Himmlisches Jerusalem auf dem horizontalen Glasband und Weinreben in Anlehnung an das Abendmahl auf dem vertikalen Band.

Jerusalem ist in eine langgestreckte weiße Wolke auf roten Grund gesetzt. Die Stadt ist von einem weißen Band umschlossen, in das in unregelmäßigen Abständen immer wieder gelbgoldene Sterne eingearbeitet sind. Annähernd ein Dutzend rote und blaue Tore lassen sich in dem Meer der Baukörper, der Klötze, Fragmente, Tore, Türen, Balken, etc. ausmachen. Irgendwie erscheint diese Stadt auch technizistisch, wie das Fließband einer Produktionsanlage oder die Silhouette einer moderne Großstadt mit Wohnanlagen, Siedlungen, Betonwüsten ohne Grün. Dieses findet man dann an der rechten Seite, wo sich weiße mit blauen Weintrauben abwechseln, zwischen denen man Weinblätter in wechselnden herbstlichen Farben findet. Der Zusammenhang mit dem Himmlischen Jerusalem ist zweifacher Art: einerseits ist das Abendmahl die geistliche Verbindung aller Heiligen und Geretteten, andererseits ist das Himmlische Jerusalem der Ort, an dem die Heiligen und Geretteten das ewige Abendmahl (ein typisches Motiv der Ostkirche) feiern, also eine ununterbrochene Gemeinschaft mit Christus, sei es leiblich, sei es geistlich verstanden. Mit diesem für Yelin völlig neuen Zusammenhang verabschiedete er sich von seinen untergehenden Babylondystopien, die viele Jahre zuvor seine Jerusalemsbilder im unteren Bereich geprägt haben.

Christa Birkenmaier (Hrsg.): Rudolf Yelin d. J., 1902-1991. Leben und Werk, Petersberg 2019.

 

tags: Rudolf Yelin, Württemberg, Glasband, Lichtband, ewiges Abendmahl, Weintrauben
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