Das 20. Jahrhundert hat in Russland nur sehr wenige neue Ikonen hervorbringen lassen, da viele Jahrzehnte die russisch-orthodoxe Kirche sich im Niedergang befand. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden wieder russisch-orthodoxe Kirchen und Klöster aufgebaut, für die man auch neue Ikonen benötigte. Zudem war es jetzt möglich, Ikonen und andere Kunstwerke für das Ausland herzustellen. Zahlreiche neue Werkstätten belebten die Tradition der Ikonenmalerei und schufen Kunstwerke, die für den Laien wie Arbeiten aus dem 16. oder 17. Jahrhundert aussehen. Das gilt auch für ein Weltgericht, also ein klassisches Thema der Vergangenheit, welches ansonsten in der zeitgenössischen Kunst Russlands so gut wie keine Rolle spielt. Obwohl die Ölmalerei auf Kreidegrund und partieller Vergoldung lediglich 45 x 40 Zentimeter groß ist, hat sie den Titel „Große Ikone mit dem Jüngsten Gericht“, was sich nicht auf die Maßeinheit bezieht, sondern auf die Tatsache, dass auf dem kleinen Bild doch alle üblichen Merkmale eines großen Weltgerichts vereint sind. So erscheint auf der Tafel links auch das Neue Jerusalem. Es scheint eine quadratische Anlage zu sein, mit jeweils einem Eckturm. Die Mauern sind extrem hoch, so dass die Anlage unwirklich wirkt. Genaue Aussagen lassen sich nicht treffen, da der linke Bildrand die Stadt abschneidet und wir nicht wissen, wie sie vollständig aussieht.
Auf der Frontseite schiebt sich ein gewaltiges Tor zwischen die Türme mit Schmuckformen, wie man sie auch auf der Ikonostasis findet. Kreisförmig finden um die Stadt bestimmte Ereignisse aus der Apokalypse statt: Unten zieht ein Engel weitere Gerettete nach oben, vor dem Eingang öffnet Petrus mit einem Schlüssel die Flügel, ein Engel mit einer Posaune läutet die Endzeit ein, darüber schwebt ein weiterer Engel mit wiederum einer Posaune, neben ihm strahlt die apokalyptische Sonne. Das alles sind eher westliche Bildelemente, die wir auch auf Arbeiten von Adriaen Collaert, Julius Goltzius, John Baptista Vrints oder Marten de Vos finden, deren Ansichten ja über Kupferstiche weit verbreitet waren. Der westliche Einfluss zeigt sich auch im Stadtinneren, wo auf die typischen Arkaden verzichtet wurde, allerdings auch auf Häuser. Stattdessen findet man eine Ansammlung vieler Heiliger in einer Gartenlandschaft, die an den Paradiesgarten anlehnt. Auch an anderen Stellen des Bildes orientierte sich der Maler an der Westkirche, indem er statt des orthodoxen das lateinische Kreuz ins Bildzentrum stellte. Vielleicht war die Arbeit von Beginn an für Kunden aus Westeuropa gedacht, wo sie ein Auktionshaus in Deutschland für lediglich 650 Euro anbot.
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Aus der Werkstatt der oben vorgestellten Weltgerichtsikone und vielleicht vom gleichen Künstler oder der gleichen Künstlerin ist eine weitere Ikone, die ebenfalls das Weltgericht thematisiert. Hier findet sich das Himmlische Jerusalem oben links als Ansammlung einiger goldener Kuppeln mit orthodoxen Kreuzen. Diese Ikone soll im 20. Jahrhundert entstanden sein, vermutlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion um 1990. Die Ölmalerei auf Kreidegrund und partielle Vergoldung kommt auf eine Größe von 48 x 41 Zentimeter, der Ausschnitt beträgt 16 x 14 Zentimeter. Auf nicht näher bekanntem Weg gelangte das Kunstwerk nach Westeuropa und wurde vom gleichen Auktionshaus wie das vorherige Beispiel angeboten und 2020 für 1100 Euro versteigert.
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