Südrussische Weltgerichtsdarstellung (17. Jh.)

Diese volkstümliche Ikone stammt aus einem Synodikon einer Kirche oder Kapelle aus dem südlichen Russland. Es ist eine einfache Arbeit, vermutlich eine Kopie einer älteren Fassung, die jedoch noch nicht bekannt oder bereits wieder verschollen ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Weltgerichtsikonen des 17. Jahrhunderts fallen hier sogleich mehrere Merkmale auf:
-die leuchtenden, hellen Farbtöne, überwiegend ein Gelb und Rot, akzentuiert mit einem russischen Grün;
-die zeichnerische Ausführung, die an Miniatur- oder Lackmalerei denken lässt;
-die Reduktion auf wesentliche Bildelemente und die ausgesprochene Flächigkeit vieler Partien.
Das Ganze macht eher den Eindruck einer Entwurfszeichnung denn einer Ikone, womit nichts über die Qualität dieser Arbeit gesagt ist, die bereits allein ihrer Seltenheit wegen heraussticht. Die Wahl der Bildmotive ist klassisch und auch bei vielen anderen Weltgerichtsikonen ähnlich zu finden: Unten rechts befindet sich die Hölle, links die drei Patriarchen, dazwischen die goldgelbe Paradiespforte. Diese wird gerade von Petrus aufgeschlossen – ein Motiv, welches in der Westkirche immer mit der Himmelspforte, in der Ostkirche aber mit der Paradiespforte verbunden ist. Unabhängig davon ist diese Pforte reichlich ornamentiert und aufwendiger gestaltet als die Himmelspforte im oberen Bereich. Darüber befindet sich eine Seelenwaage des Erzengel Michael, der entscheidet, ob ein Mensch in den Himmel oder die Hölle gelangt. Geht es in den Himmel, wird er von Engeln auf einem Band, ähnlich einem Fahrstuhl, an der linken Seite der Ikone nach oben gebracht (Typus Fahrstuhlikone). Selten zu sehen: Einer der Engel fliegt sogar kopfüber nach unten, die anderen bis zur bereits erwähnten Pforte des Himmlischen Jerusalem. Zu beiden Seiten der Pforte des Himmlischen Jerusalem befinden sich sechs einfache Arkaden, aus denen die Gesichter von Heiligen schauen, die dort das ewige Abendmahl feiern.

Claus Bernet: Ikonen des Weltgerichts, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 37). 

 

tags: Südrussland, Weltgericht, Arkaden, grell
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