In 19. Jahrhundert entstand eine beträchtliche Zahl von Ikonen in Zentralrussland. Man kann diese Werke anhand der schlanken Figuren, der zeitgenössischen Architektur und anhand der horizontalen Betonung relativ schnell als Werke einer einheitlichen Malerschule ausfindig machen. Eine überraschend große Zahl der Werke befindet sich längst nicht mehr in Russland, sondern in europäischen Sammlungen.
Im ersten Fall geht es um ein Werk aus den Kunstgalerien Böttingerhaus in Bamberg. Die exzellent erhaltene Arbeit wird von Fachleuten der Ostkunst auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts datiert.
Das insgesamt lediglich 35 x 31 Zentimeter kleine Täfelchen zeigt auf der linken, „guten“ Seite von unten nach oben: die Paradiespforte, den Aufstieg in den Himmel und das Himmlische Jerusalem. Dieses und andere Motive waren jedoch keineswegs „selten“, wie es im Katalog „Ikonen des Ostens“ erwähnt wurde, sondern im Gegenteil: Genau dieser Ikonentypus zählt zu den häufigsten überhaupt, vielleicht war das Weltgericht sogar das beliebteste Motiv nach der Gottesmutter? Der Bau, der hier Jerusalem repräsentiert, ist ein Konglomerat aus einer Himmelspforte, aus der heraus ein Engel einen Geretteten nach innen zieht, einem Triumphbogen mit spätbarockem Dekor und Resten von (zwei) Arkaden (ohne Mittelpfeiler), in denen Adoranten zusammenkommen.
Auch diese Ikone wurde in Zentralrussland angefertigt, die Gesamtgröße beträgt 107 x 85 Zentimeter, der hier gezeigte Ausschnitt zum Thema beträgt 40 x 30 Zentimeter. Das Werk auf Basis von Temperafarbe ist heute Teil der Gemäldegalerie des Palazzo Leoni Montanari in Vicenza. Das Himmlische Jerusalem ist in die Ecke oben links positioniert, als zweistöckige Architektur, die zum Betrachter hin offen ist und Einblick gewährt in Etagen mit Gruppen von Heiligen, die in Vierergruppen versammelt sind, um das ewige Abendmahl zu feiern. Die Stadt ist lediglich mit vier annähernd gleich großen Arkaden repräsentiert, die sich nicht nach rechts fortsetzen.
Ein im Aufbau ähnliches Weltgerichtsgemälde entstand ebenfalls um 1890 in Zentralrussland, vermutlich im monastischen Umkreis. Fachleute vermuten, dass es sich um ein Werk aus der gleichen Malerschule wie die vorherige Arbeit handelt, vielleicht sogar um den gleichen Ikonenmaler, den wir namentlich allerdings nicht kennen. Unten links ist auf diesem Werk das Paradies dargestellt, unten rechts die Hölle, oben rechts Heilige und oben links das Neue Jerusalem. In diesem sind Heilige beim „ewigen Abendmahl“ versammelt, und zwar in vier Arkaden, von denen zwei übereinander gesetzt sind. Diesmal hat die Architektur eine rosa Färbung. Nach unten ist sie klar durch ein Wolkenband von der restlichen Ikone abgegrenzt. Wie viele Ikonen befindet sich das Kunstwerk nicht mehr in Russland, sondern wurde im Jahr 2007 auf einer Auktion in Stockholm versteigert.
Carlo Priovano (Hrsg.): L’immagine dello spirito, Milano 1996.
Carlo Pirovano (Hrsg.): Icone russe. Gallerie Palazzo Leoni Montanari, Milano 1999.